Kolumbien: „Diese Regierung ist absolut nicht verhandlungsbereit“

Interview

Seit dem 28. April halten die Proteste in Kolumbien das Land in Atem. Der Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe Muñoz berichtet im Interview über den Generalstreik und die Verhandlungen mit der Regierung.

Paro Nacional Colombia Kolumbianische Flagge Protest

Alirio Uribe Muñoz Porträt

Alirio Uribe Muñoz (60) ist Menschenrechtsanwalt und langjähriger Leiter des Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo (CAJAR). Derzeit gehört er dem Comité de Paro Nacional, dem Nationalen Streikkomitee an. Das Komitee führt die Verhandlungen mit der Regierung von Iván Duque.

Anfang Juni hat das Streikkomitee die Verhandlungen mit der Regierung abgebrochen, Mitte Juni dann dazu aufgerufen, die Proteste ruhen zu lassen. Warum? Keine Forderung der Streikenden wurde von der Regierung akzeptiert, nicht eine Reform eingeleitet.

Die Entscheidung zum Abbruch des Dialogs erfolgte, weil die Regierung nicht Willens ist, zu verhandeln. Ihre Strategie war es, Zeit zu schinden, die Proteste auszusitzen – einen Dialog zu führen ohne irgendein Zugeständnis zu machen. Mehr noch, die Regierung hat einseitige Entscheidungen bekannt gegeben, obwohl  mehrere dieser Punkte in der Verhandlungsagenda des Streikkomitees aufgeführt waren. So zum Beispiel die Streichung von Studiengebühren für bestimmte Bevölkerungsschichten oder die Gewährung von Krediten für Agrarproduzenten. Auch die Zurücknahme der Steuer- und der Gesundheitsreform erfolgte eigenmächtig – die Regierung ist nichts Willens, einen echten Dialog zu führen. Wir wollten uns von einer Regierung, die nicht zuhört, nicht verhandelt und repressiv agiert, nicht weiter hinhalten lassen.

Die Verhandlungen zwischen dem Streikkomitee und der kolumbianischen Regierung standen von Beginn an unter keinem guten Stern. Wo gab es die größten Differenzen?

Das Komitee hat von Beginn an darauf gedrängt, nicht das Militär in die Städte zu schicken, hat deren Abzug und eine Politik der Deeskalation eingefordert. Die Regierung Iván Duque, hinter dem sein politischer Mentor Álvaro Uribe Vélez (Ex-Präsident von 2002-2010 und Gründer der Regierungspartei Centro Democrático, Anm. d. Aut.) steht, hat hingegen eine Politik der harten Hand präferiert. Ich halte die Entscheidung, Militärs einzusetzen und der Polizei de facto freie Hand zu lassen, für unverantwortlich – die Regierung hat dadurch internationale Menschenrechtsstandards verletzt und grundlegende Verfassungsrechte wie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht.

Die Verletzung von Verfassungs- und Menschenrechte hat der Regierung international massive Kritik eingebracht und Anfang Juni zum Besuch der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) geführt. Hatte die Visite einen positiven Effekt?

Die Menschenrechtssituation in Kolumbien ist alarmierend. Während der achtwöchigen Proteste ist die Zahl der Massaker und gezielten Ermordungen von Aktivist*innen für Umwelt-, Menschen- und Landrechte zwar gesunken. Dem gegenüber stehen aber mehr als 70 bestätigte Morde an Demonstrierenden, Hunderte Verschwunden und 28 Fälle von sexueller Gewalt, für die Ordnungskräfte und zivile Täter, die unter den Augen der Polizei agierten, verantwortlich gemacht werden. Es hat den Anschein, dass die Akteure die Gleichen sind – nach dem Abebben der Proteste wurden wieder gezielte Morde und auch die ersten Massaker vermeldet. Da scheint es einen direkten Zusammenhang zu geben und das ist ein Grund, weshalb die Delegation der OAS-Menschenrechtskommission in Kolumbien wie eine Rockband oder ein Fußballteam empfangen wurde – es gab Begeisterungsstürme. Das ist neu und ein Fortschritt. Die Bevölkerung scheint begriffen zu haben, wie wichtige internationale Beobachter und unabhängige multilaterale Organisationen sind. Die kritische Frage der Delegation, weshalb Kriegswaffen gegen Demonstranten eingesetzt wurden, hat außerdem dafür gesorgt, dass die nationalen Institutionen, wie die Ombudsstelle für Menschenrechte, die Staatsanwaltschaft, aber auch die Ermittlungsbehörden nun agieren müssen.

Werden die Verbrechen von Ordnungskräften und zivilen Meuchelmördern nun endlich untersucht, wie es Außenministerin Marta Lucia Ramírez angekündigt hat?

Ja und nein. Die Visite der OAS hat sicherlich dafür gesorgt, dass die Situation nicht noch schlimmer wurde, aber die Ermittlungen kommen bisher nicht flächendeckend voran. Das Problem ist meiner Meinung nach, dass die Generalsstaatsanwaltschaft nicht unabhängig ist, sondern sich in den Händen der Regierung befindet. Generalstaatsanwalt Fernando Barbosa Delgado ist ein enger Freund des Präsidenten. Das ist ein gravierendes Problem. Immerhin steht er nun unter Druck, Ermittlungen wegen der extremen Polizeigewalt auf den Weg zu bringen und Ergebnisse präsentieren zu müssen. Das ist positiv, wichtig ist aber auch, dass die internationale Aufmerksamkeit anhält.

Präsident Iván Duque hat eine Polizeireform angekündigt, aber die lange geforderte Auflösung der Sondereinsatzkommandos ESMAD ausgeklammert. Kann das funktionieren?

Für mich ist das eine Strategie, um nicht strukturell reformieren zu müssen. Der Präsident hat sich zu keiner Zeit von der Polizei und den Militärs und deren Brutalität distanziert. Heute erst hat er von einem „Terrorismus niederer Intensität auf den Straßen Kolumbiens“ gesprochen. Das konterkariert alle Reformversprechen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Namen der Polizeieinheiten und Uniformen geändert werden, aber nicht die Strukturen dahinter. Wir brauchen eine strukturelle Reform, eine Änderung der Polizeidoktrin und dazu gehört auch, dass sie nicht dem Militär untersteht, das nach wie vor darauf ausgerichtet ist, den internen Feind, Terroristen, Subversive und Guerilla, zu bekämpfen. Das muss sich endlich ändern – wir brauchen die Implementierung des Friedensvertrages und ein Ende des Krieges in den Köpfen.

Verfolgt das Streikkomitee eine neue Strategie? Derzeit kursiert ein Demonstrationsaufruf für den 20. Juli, parallel dazu wird auf regionaler Ebene über den Forderungskatalog des Streikkomitees verhandelt.

Wir sind verhandlungsbereit, haben eine Agenda (Pliego de Emergencia) und versuchen in einen konstruktiven Dialog auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zu treten. Auf lokalem und regionalem Niveau ist das möglich, wie das Beispiel Cali zeigt, aber auch die Verhandlungen in anderen Städten. Zudem wollen wir auf parlamentarischer Ebene, im Kongress und Senat, ins Gespräch mit den Abgeordneten kommen. Die nehmen ihre Arbeit am 20. Juli wieder auf und deshalb haben wir an diesem Tag zu landesweiten Demonstrationen aufgerufen. Wir brauchen Reformen und suchen nach Alternativen, denn diese Regierung ist komplett reformunwillig.

Was sind die Kernpunkte des Pliego de Emergencia?

Auf der Agenda steht ein Grundeinkommen (renta básica), um rund sieben Millionen Familien aus der strukturellen Armut zu führen, in die sie nicht erst mit der Pandemie gerutscht ist. Zudem geht es um eine Reform des Gesundheitssystems, dessen strukturelle Defizite mit der Pandemie offensichtlich wurden, aber auch um eine effektive Impfkampagne. Ein dritter Punkt ist das Bildungssystem und der schnelle Ausbau des Internets, dass in vielen Landesteilen, vor allem im ländlichen Raum quasi inexistent ist. Virtueller Unterricht ist in 90 Prozent der ruralen Gemeinden unmöglich, in 50 Prozent der Gemeinden fehlt zudem das Equipment. Auf unserer Agenda steht zudem die Förderung kleinbäuerlicher Produktion in Kolumbien sowie die der Frauenrechte. Der Anteil von Frauen, die ihre Arbeit in der Pandemie verloren, ist überproportional hoch und Gewalt gegen Frauen ist in Kolumbien ein gravierendes Problem. Auch das hat uns die Pandemie wieder vor Augen geführt. Um diese strukturellen Reformen anzuschieben, brauchen wir Geld. Das hoffen wir durch eine progressive Steuerreform aufzubringen zu können und dafür brauchen wir landesweite Diskussionen und wirkliche Verhandlungen – auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene.

Für die Protestierenden ist Präsident Iván Duque untragbar. Sie fordern seinen Rücktritt und strukturelle Reformen. Die Regierung scheint die Proteste aussitzen zu wollen – trügt der Eindruck?

Iván Duque hat immer wieder behauptet, dass er friedliche Proteste respektieren würde, aber zugleich auch auf die Akte von Vandalismus hingewiesen und auf die Straßenblockaden. Die, so Duque, seien eine Verletzung grundlegender Rechte und er hat von der Zivilgesellschaft verlangt, sich von den Blockaden zu distanzieren – als Voraussetzung ernsthafter Verhandlungen. Auf der anderen Seite hat er das Vorgehen der Polizei und der Militärs, die bewusst Verletzungen in Kauf nahmen und Schusswaffen gegen Demonstrant*innen und Journalist*innen einsetzten, eben nicht verurteilt. Duque hat die Ordnungskräfte von seiner Null-Toleranz-Devise gegen Gewalt kategorisch ausgeklammert. Von Seiten der Regierung hieß immer nur lapidar, die Vorwürfe müssten untersucht werden. Dabei gibt es etliche Beweise für die Polizeigewalt – Fotos, Videos, Zeugenaussagen. Das aggressive Vorgehen gegen die Protestierenden wurde von der Regierung nie in Frage gestellt.

In Cali, aber auch in anderen Städten des Landes ist es die junge Generation zwischen 18 und Ende dreißig, die an den Barrikaden steht. Eine Generation, die nichts zu verlieren hat und auf die nie gehört wurde. Sie agiert autonom, fühlt sich Berichten zufolge nicht durch das Streikkomitee vertreten.

Es ist richtig, dass diese Generation im Streikkomitee nicht oder nur partiell vertreten ist. Wir können nicht für sie sprechen und es ist richtig, dass sich in dieser Generation viel Empörung und Wut aufgestaut hat, die sich nun manifestiert. Es ist der Protest einer ignorierten Generation, die unter fehlenden Perspektiven, unter Armut und Arbeitslosigkeit leidet, der aber auch viele Studenten angehören.

In vielen Stadtteilen von Cali, dem Epizentrum der Proteste, hat sich der Widerstand oft spontan organisiert, eigene kollektive Strukturen wurden gebildet und die sind besonders massiv in marginalisierten Vierteln wie Siloé oder Aguas Blancas von Cali. Dabei spiegelt der Sturm auf die Supermärkte, die als Akte des Vandalismus von Präsident Iván Duque immer wieder herausgestrichen werden, die soziale Situation wieder.

Berichten und Videos zufolge hat es in Cali immer wieder Attentäter gegeben, die, von der Polizei gedeckt oder geduldet, auf Menschen hinter den Barrikaden schossen. Bilden sich neue paramilitärische Strukturen?

Das ist aus mehrfacher Perspektive extrem gefährlich, denn die Attentäter scheinen der extremen Rechten anzugehören, agierten in zivil und zielten auf Protestierende, darunter auch indigene Aktivist*innen – unter den Augen von Polizei und teilweise wohl auch Militärs. Dass es sich dabei um Paramilitärs oder extreme Anhänger des konservativen Präsidenten handelt ist wahrscheinlich und dass sie rassistisch agierten ebenfalls. Rufe wie „Wir wollen kein Minga“ (eine indigene, kollektive Protest- und Aktionsform, Anm. d. Aut.) deuten daraufhin.

Fast zwei Monate der Proteste haben Kolumbien geprägt...

3000 Demonstrationen und Protestaktionen in rund 800 Gemeinden des Landes sowie Hunderte Straßenblockaden sind ein Beleg dafür, dass große Teile der Bevölkerung ein Weiter so nicht akzeptieren. Das Streikkomitee hat Mitte Juni dazu aufgerufen, die Proteste zu beenden, weil sie die Wirtschaft des Landes massiv treffen, die Versorgung der Menschen gefährden, aber auch schlicht nicht unbegrenzt durchhaltbar sind mitten in einer Pandemie. Wir brauchen eine Atempause, müssen Kräfte sammeln, denn es ist vollkommen klar, dass die Proteste weitergehen werden. Am 20. Juli.